Ich starre in den Fernseher und balle meine Faust zusammen. Ich atme tief ein und aus. Das lustige Programm zieht an mir vorbei. Ich will schlafen, liege aber wach. Dieses Gefühl ist mir so fremd. Es schnürt mich zu, macht alles schwer. Wie müssen sich andere fühlen, frage ich mich.

      „Je kleiner die Kinder, desto kleiner die Sorgen. Je größer die Kinder, desto größer die Sorgen.“
      Diesen Spruch höre ich ständig, wenn Menschen mich, auf meine bereits so großen Kinder ansprechen. „Nööö, finde ich nicht so!“ – meine Standardantwort.

      Was war ich mit 19/20 froh heil aus meiner Jugend gekommen zu sein. Mich nie mit irgendwelchen Mädchen angelegt zu haben und mich aus ziemlich allem rausgehalten zu haben. Was bei meinem Freundeskreis gar nicht selbstverständlich war. Ich habe viele Freunde an Drogen oder das Gefängnis verloren. Ich weiß also, wovon ich spreche. Ich war auch kein weißes Blatt, doch alles was ich tat, hatte eher Auswirkungen auf mich, als auf das Leben anderer.

      Und dann das: meine Tochter schickt mir ein Bild über WhatsApp. „Mama, was ist das, das tut so weh.“

      Ich bitte sie aus ihrem Zimmer zu kommen. Ihr Ohr ist dick geschwollen und Blutunterlaufen. Sie wisse nicht woher das kommt. Doch mir ist es sofort klar und all die Ängste meiner Jugend kommen wieder in mir hoch. Sie wurde geschlagen. MEIN Kind ist Opfer geworden. Es bricht aus ihr raus und sie erzählt mir ihre Geschichte. Ihre langjährige Freundin, die sie hintergeht und schlecht macht. 6/7 Mädchen einer anderen Schule, die ihr nach Schulschluss auf dem Pausenhof auflauern und sie umzingeln. Geschrei: „Schlag sie, schlag sie!“ Hunderte Kinder stehen drum rum, lachen, freuen sich auf eine Schlägerei, filmen und posten es auf Snapchat. Und dann eine harte Faust auf ihr Ohr. Sie ist benommen hat Schmerzen, ein Freund schreitet ein und zieht sie ins Schulgebäude, ins Sichere.

      Als wäre nichts kommt sie nach Hause und zieht sich in ihr Zimmer zurück. Erst als es am Abend mit den Schmerzen unerträglich wird, bittet sie mich um Hilfe.

      Was ist nur los heutzutage? Was habe ich es gehasst, wenn Ältere immer sagten: „Früher war alles anders!“ Aber heute, ja, heute kann ich sagen, früher war es wirklich anders. Ich kann mich nicht erinnern, dass langjährige Freunde einen hintergehen, andere aufhetzen, Filmen und Lachen. Das Empathie – wie fühlt sich derjenige wohl in dieser Situation – so völlig fehlt. Dass es mehr auf die Anzahl als auf die Qualität der Freundschaften ankommt. Dass Werte wie Freundschaft und Familie keine mehr sind.
      Ja, ich weiß, die Pubertät ist eine schwierige Zeit, ich bin auch erst gerade raus :) Und manch eine Streiterei ist einfach natürlich. Aber das Niveau, auf dem ich das heutzutage erlebe, ist unfassbar.

      Bei all der Angst, die man als Eltern in Bezug auf den Umgang der Kinder hat, habe ich mir eines ganz klar vor Augen gehalten: ES MACHT EINEN UNTERSCHIED WOHER DU KOMMST. Woher, natürlich in dem Sinne von, wo Dein Fundament liegt (wenn es denn eins gibt).

      Es gibt in meinen Augen „Nicht-oder-un-soziale-Kinder“ und es gibt „Nicht-oder-un-soziale-Kinder“. Die einen, und das sind die „gefährlichen“, sind ein Produkt ihrer Erfahrungen. Der Liebe, die ihnen gegeben oder nicht gegeben wurde, des Urvertrauens, das in ihrer frühesten Kindheit geschaffen oder nicht geschaffen wurde. Der Annahme oder der Ablehnung, der Auferbauung oder der Zerstörung ihrer sensiblen Seelen. Der Kommunikation sowohl in schönen als auch in schwierigen Momenten. Wir wissen heute, dass die Eltern-Kind-Beziehung eine wichtige Voraussetzung für die spätere psychische Entwicklung und das Fundament für eine emotional stabile Persönlichkeit und Lebenszufriedenheit ist. Auch wenn sich die Eltern-Kind-Beziehung im Laufe des Lebens verändert, die frühkindlichen Beziehungserfahrungen sind besonders prägend. Das emotionale Umfeld, hat also Einfluss auf die Einstellung unserer Kinder zu Vertrauen, Liebe, zwischenmenschlicher Kommunikation und Beziehungen.

      Und dann gibt es da die anderen. Die Kinder, die wechselhaft sind. Deren Fundament zwar steht, deren Schiff aber mit den Wellen des Meeres hin- und hergerissen wird. Sie müssen sich ausprobieren, Freundschafts-Erfahrungen machen, auch blöd daher reden. Fehler machen, unfreundlich sein, andere beleidigen und auch lästern. Ich würde sagen, zu denen gehört meine Tochter. Und das hat mir lange Angst gemacht. Mich als Mutter beunruhigt. Wird sie so werden, wie diese Mädchen, die ich immer gemieden habe? Und vor einigen Wochen hatte ich meine Antwort: Nein, denn Dein Kind ist gewachsen aus einem Fundament der Liebe. Aus Annahme und Herzlichkeit. Aus Empathie und gesunder Kommunikation. Ihr Sinn für Gerechtigkeit bringt sie oft in Schwierigkeiten, denn sie deckt gerne Dinge auf, die anderen unangenehm sind. (Vielleicht sollte sie Anwältin werden :)). Ich hatte ein gutes Gespräch mit ihr, an dem Tag, als mir das klar wurde und das Schöne ist, sie weiß um ihr Fundament. Sie besinnt sich immer wieder darauf, dass sie weiß wo ihr Zuhause ist und dass diese Welt ihr nichts anhaben kann.

      Wie geht es nun weiter: wir waren heute beim Unfall-Arzt, der ein starkes Hämatom (und einen Knutschfleck :)) diagnostiziert hat. Morgen müssen wir aufgrund des Blutes, dass sich unter der Haut angesammelt hat noch zu einem HNO. Die Verantwortliche Frau bei der Polizei hat mal grob alles aufgeschrieben, wir bekommen einen Termin zur Vernehmung. Das Mädchen, das geschlagen hat ist bereits für solche Delikte bekannt und wird ihre Strafe bekommen. Ebenso die Mädchen, die drum rum standen und ein Mädchen ihrer Schule, welche lachend gefilmt hat und den Film im Internet veröffentlicht hat.

      „Je kleiner die Kinder, desto kleiner die Sorgen. Je größer die Kinder, desto größer die Sorgen.“ – Ja, da hast Du wohl recht!

       

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